Electronic Harem (Leseprobe)

Die Handtasche

„Du willst Maria und ihre Handtasche mit dem Motorrad nach Kreta nehmen?“ Sonja legte die Zündkerze auf die Sitzbank und stützte sich auf den Tank. Strich über den silberfarbenen Lack. Dieter polierte an seinem Motorrad herum, wassergekühlt, wenig zu schrauben.
„Maria ist immer eine prima Beifahrerin gewesen“, sagte er.
„Ihr seid also wieder zusammen?“ Sonja hielt die Zündkerze gegen das Licht und prüfte die Farbe. Hellbraun die Elektrode, genau richtig, jedenfalls das. Trotzdem nahm sie das Messingbürstchen. Maria also. Sie drehte die Kerze wieder in den Zylinderkopf. Handwarm. Der Kerzenstecker rastete ein.
Dieter trat vor die Garage. „Maria fährt mit nach Griechenland. Sind eben Semesterferien. Weiter nichts. Sie sitzt bei mir auf dem Sozius. Du wirst sie also kaum bemerken. Sowieso sagt sie kaum etwas.“ Dieter kam wieder herein. „Hoffentlich gibt es keinen Schnee. Anfang März gar nicht selten. Es riecht so.“
„Andauernd verstellen sich diese Unterbrecherkontakte! Baujahr 79. Noch kein Jahr alt, diese verdammte Kiste!“ Sonja prüfte ein letztes Mal den Zündzeitpunkt. Maria also und ihre Krokotasche. Sonja setzte den Gehäusedeckel an und nahm den Imbusschlüssel. Zog die Schrauben fest. Nie hatte sie Maria ohne ihre Tasche gesehen, nie entfernte sie sich weiter als einen Schritt von ihr. Sonja hatte stattdessen ihre selbstgebauten Packtaschen und für Kleinigkeiten genug Raum in den Hosentaschen oder im Innenfach der Lederjacke.
Sie packte das Werkzeug zusammen. Gabelschlüssel, Nusskasten, den Spannungsprüfer durfte sie nicht vergessen, auch die Schieblehre. Der Drehmomentschlüssel kam in die rechte Packtasche. Falls sie das Lenkkopflager nachstellen musste. Erst vor zwei Wochen hatte sie ein Kegelrollenlager eingebaut, aber man konnte nie wissen. Sie prüfte den Kettenkasten. Nach eigenem Entwurf selbst geschweißt. Es roch nach frischem Fett.
Die anderen wussten ja nicht, warum. Warum sie so schweigsam war, warum sie unbedingt ihre Handtasche brauchte. Gegen die Stimmen in ihrem Kopf. Schon ihre Großmutter kannte diese Stimmen genau, bei ihrer Mutter waren sie zu Körpern geworden, die sie schließlich ins Wasser getrieben hatten. „Es wird Zeit“, hatte ihre Großmutter gesagt, „dass ich dich im Leben befestige, „ich schaffe es jetzt auch so. Mit fast siebzig. Aber Maria, du wirst ja nun bald richtig volljährig. Und deshalb schenke ich dir meine Krokotasche. Sie passt auch jetzt viel besser zu deinen Haaren als zu meinen. Trage sie immer bei dir.“ Ihre Großmutter hatte die Tasche an sich gedrückt und zärtlich über das Leder gestrichen.
Sich an Dieter festhalten. Fahren. Den Wechselpass überwinden, das letzte Hindernis zwischen Österreich und Jugoslawien. Stangen neben der Straße. Schieferplatten ragten aus den Schneeresten. Hinunter fahren. Vielleicht blieb nicht nur der Schnee auf dem Berg zurück. Das Visier öffnen. Es roch nach Sonne.
Grenzübergang Spielfeld. Die Wintercombi ausziehen. Ihre kastanienbraunen Haare waren zu einem Mozartzopf geflochten. Maria wusste, sie sah perfekt aus. Die Wintercombi sorgfältig zusammen rollen. Perfekt sein müssen. Sie pflückte ein paar gelbe Blumen und ging zu Sonja hinüber.
„Vielleicht macht es dir Spaß, den Frühling spazieren zu fahren.“ Sie legte die Blumen auf die Sitzbank. „Möchtest du ein Zahnpflegekaugummi?“ fragte sie und zog die Packung aus der Hosentasche. Sonja wollte nichts und verschränkte die Arme. Maria nahm die Blumen und steckte sie zwischen Zündschloss und Lenker. „Ich wollte dich fragen“, redete sie weiter, suchte mühsam die Worte zusammen, „ob ich meine Tasche bei dir deponieren könnte, wenn die Wintercombi im Koffer ist, wird das Krokoleder gequetscht. Dieter würde dafür deine Regensachen nehmen.“
Sonja schloss die Packtasche auf und nahm den Deckel ab. Maria gab ihr die Krokotasche, zögerte. Die Luft dampfte in der Sonne. Sonjas Regencombi zusammen rollen. Sorgfältig.
Die Tasche noch einmal herausnehmen. Über das rotbraune Leder streichen. Mit den Fingerspitzen die Maserung nachfahren. Sie wieder in die Packtasche betten. Die Bügel sorgfältig einschlagen. „Ich werde versuchen, dich nicht allzu oft zu belästigen“, sagte sie. Sonja wusste ja nicht, warum. …

Elektronic_Harem_Titel

schweikert bonn verlag
Stuttgart 2015
(vergriffen)
160 Seiten, 12 Euro
ISBN-10: 3940259314
ISBN-13: 978-3940259318